A well means well
Es war einmal ein Brunnen. Aber kein gewöhnlicher Brunnen, nein. Dieser Brunnen war nicht rund, wie andere Brunnen es waren. Er war nicht in die Mitte des Dorfes gebaut worden wie andere. Er war auch nicht so hoch wie andere. Dieser Brunnen stand allein. Auf einer wilden Lichtung, an der jeden Morgen die Sonne auftauchte, um sich den Tau anzusehen. Der Brunnen stand bescheiden vor drei majestätischen Felsen, die im Abendrot jeweils rötlich leuchteten – aber nur von der Seite, als wäre die andere Hälfte ihr eigener Schatten.
Ein paar Ranken zierten sanft den Brunnen. Auch ein paar hartnäckige Pflanzen umgarnten ihn. Worüber der Brunnen sich aber am meisten freute, waren die schönen Rosenranken – volle, prächtige Blüten im schönsten Rot, das der Brunnen je gesehen hatte. Ein hübsches Steinrelief war des Brunnens ganzer Stolz, ließ er doch dadurch das Wasser hervorsprudeln – immer hinein in das halbrunde Becken vor ihm.
Ab und an gesellten sich ein paar Spatzen zum Brunnen, lauschten seinem Plätschern. Und er lauschte ihren schönen Gesängen, während sie vergnügt in seinem Wasser badeten.
„Du bist ein Vogel“, benannte der Brunnen seinen Gedanken.
Auch ein scheues Reh traute sich über die herrlich grüne Lichtung auf den Brunnen zu. Beinahe hätte der Brunnen vor Andacht sein Wasser versiegen lassen.
Vorsichtig begann das Reh zu trinken.
Ehrfürchtig beobachtete der Brunnen das scheue Tier. Ganz heimlich und leise dachte er: „Du bist ein Reh.“
Das Reh trank weiter, bis es auf einmal den Kopf hob. Die Ohren des Rehs waren auf den schmalen Gang am anderen Ende der Lichtung gerichtet. Als ein gelber Fleck zum Vorschein kam, sprang das Reh scheu davon.
Der Brunnen wunderte sich. Etwas mit dieser Form hatte er schon lange nicht gesehen.
Ein Prinz kam über die Wiese auf den Brunnen zu.
Sein Obergewand war dotterblumengelb, seine grünen Schuhe waren nass vom glitzernden Tau. Immer wieder schaute der Prinz nach links und rechts, wankte und schwankte, seufzte und stöhnte. Sein Blick galt nur dem Boden – doch auch den, so glaubte der Brunnen, sah er nicht wirklich.
Endlich bei dem Brunnen angekommen, fiel der Mann auf die Knie.
„Ach, oh Brunnen! Ich kam den ganzen Weg hierher. Niemand kann mir eine Antwort geben… In meinem Palast wurde ich betrogen. Hinterhältige Diebe stahlen mir mein Hab und Gut! Ich bin bestürzt. Die Mägde und Diener wollen nun ihren Lohn empfangen, doch was soll ich ihnen geben? Ich habe nichts. Ich muss in ihre traurigen Gesichter schauen, ihre Kinder sehen, wie sie aus Sorge nicht mehr spielen!
Aber wäre es nur das, oh Brunnen! Mein Bruder drängt und hänselt mich, mir meinen Platz zu nehmen! Er zettelt wütende Bürger an! Ich mag schon nicht mehr essen – der Appetit vergeht mir vor Frust und Wut auf diese Ungerechtigkeit. Doch damit mache ich meine Frau traurig. Denn stell dir vor, oh Brunnen, welch Wunder geschehen ist! Sie hat mir ein gesundes Kind geschenkt. Mein Herz will überlaufen vor Freude und Lebensglück! Nichts könnte mich glücklicher stimmen, als dieses kleine Wunderwerk in meinen Armen zu wiegen.
Ach, oh Brunnen… Doch alles, was ich spüre, wenn ich mein Kind halte, ist diese ohnmächtige Sehnsucht, ihm all mein Bestes geben zu können! Das schönste Leben, die besten Umstände. Doch sieh mich an! Was bin ich ihm für ein Vater? Während ich es in meinen Armen halte, verdunkelt sich mein Gesicht mit Groll! Meine Stirn runzelt sich in Argwohn, und meine Augen werden hektisch vor Sorge! Und dann fängt es an zu weinen. Ich rufe seine Mutter herbei, und – ach, mein Brunnen, verzeih es mir – ich streite mit ihr. Sie verlangt von mir, in dem Moment zu sein, doch wie soll ich das tun mit all der Pein?
Oh Brunnen, bin ich ein Monster? Getrieben von den Umständen? Es scheint, als gäbe es nichts, was ich richtig machen kann. Wenn die Leute tuscheln, werde ich hart zu ihnen, weil sie bestimmt nichts Gutes im Schilde führen. Meine Frau sagt, ich soll mich freuen – und mir ist nur nach Weinen!
Oh mein Brunnen… Was bin ich nur? Was bin ich nur? Sag es mir, mein Brunnen, bitte. Ich weiß weder aus noch ein. Wenn ich wüsste, was ich bin, wird es vielleicht anders sein!“
Das stetige Plätschern des Brunnens versiegte allmählich, ruhig und leise. Auch die Vögel hielten sich zurück mit Gesang und Fröhlichkeit – es schien ihnen, als wäre es noch nicht soweit.
Still und sorgenvoll saß der Prinz vor dem Brunnen. Kein Wort fand er mehr.
Der Brunnen bereitete sich sorgfältig vor, stolz, das erste Mal laut zu sprechen.
Ein sanfter Windhauch ließ die Rosen wanken, ihre Blätter das Brunnenbecken benetzen.
Da ertönte die tiefe, warme Stimme des Brunnens:
„Du… bist ein Mensch.“
Nur die Sonne trocknete weiterhin leise das Gras. Dann setzte der Wind wieder ein und ließ leise die Baumwipfel rauschen.
Der Prinz saß da und schaute bloß. Sein Gesicht war einzig und allein Verwundern.
Er blieb still und schaute hinunter.
Als dann ein Vögelchen wieder das Singen anfing, begann ein Lächeln seine Lippen zu umspielen.
Es wurde immer breiter, und er schüttelte den Kopf.
Erleichtert und beruhigt stand der Prinz auf und hob zum ersten Mal sein Gesicht gen Sonne.
„Oh weiser Brunnen… Dankeschön! — Nun weiß ich, was ich bin!“
Mit einer tiefen Verbeugung fing der Prinz an, zurück zu dem Pfad zu gehen, von dem er gekommen war.
Sein Gang war leichter und befreit – beschwingt und mit erhobenem Haupt.
Ein Jubelruf ließ die Vögel aufschwärmen und umherfliegen.
Langsam fing das Wasser wieder an zu plätschern.
Der Brunnen war sehr zufrieden, und ihm fiel auf, wie wunderschön doch diese Lichtung war.
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